Leb endlich mal in der Realität!
Wer — wie die Schattenlichter — derzeit ein Stück von Lutz Hübner komplett auswendig kennt, hat viel Spaß dabei, sich ein weiteres Stück dieses Autors anzusehen: Bemerkenswert viele Parallelen gibt es zwischen „Frau Müller muss weg“ und „Richtfest“, das gestern zum letzten Mal im Hans-Otto-Theater im Potsdam zu sehen war.
Nur die Thematik ist unterschiedlich: Beim „Richtfest“ geht es nicht darum, eine zu streng benotende Lehrerin abzusetzen, sondern um eine Baugemeinschaft, die sich den Traum vom Wohneigentum verwirklichen will. Aber in beiden Stücken erlebt man anschaulich, wie Solidarität im Angesicht von Eigeninteressen scheitert. Beide Male treffen Menschen aufeinander, die sich kaum kennen und auf den ersten Blick nett und unkompliziert wirken, die sich aber im Laufe des Theaterabends als streitsüchtig entpuppen, arge Beziehungsprobleme haben, mit ihren Kindern nicht zurechtkommen usw. Die Fronten verhärten sich: bei „Frau Müller“ vor allem Ost gegen West, arbeitslos gegen arbeitsbesessen, beim „Richtfest“ burgeois gegen kommunistisch, kinderlos gegen familienzentriert, reich gegen schmarotzerisch. Da lachten die Schattenlichter nicht nur über wohlbekannte Formulierungen wie „Leb endlich mal in der Realität“ und über die sich im Kreis drehenden, schwer zu lernenden Dialoge, sondern auch über wohlbekannte Schlägereien, heruntergeworfene Tabletts und fliegende Blumensträuße.
Sogar das Ende beider Stücke ist ähnlich: Was harmonisch begann, endet im totalen Chaos; die Charaktere sind verstört, die Bühne ist verdreckt, das Vorhaben ist gescheitert. Aber während der Zuschauer aus „Frau Müller muss weg“ nicht viel lernen kann – denn er wird trotz allem wieder Elternabende besuchen müssen -, kann er aus „Richtfest“ eine klare Botschaft ablesen: Finger weg von Baugemeinschaften!
Kann man einen Theater-Tipp über ein Stück schreiben, das gestern Dernière feierte? Ja, verbunden mit einer Reiseempfehlung: „Richtfest“ wird derzeit auch im Schauspielhaus Bochum und im Badischen Staatstheater Karlsruhe gespielt. Diese Inszenierungen sind bestimmt ebenfalls sehenswert, da ja die Textvorlage gut ist. Aber zweierlei war im Hans-Otto-Theater sicherlich einmalig: Zum einen eine Darstellerin, die unübersehbar hochschwanger ist, aber in ihrer Rolle verkünden muss, dass sie gerade erst erfahren hätte, dass sie schwanger sei! Und zum anderen die bildliche Umsetzung der Redewendung „jemanden im Regen stehen lassen“: Zwei Stunden lang tropft es in unterschiedlicher Intensität von der Bühnendecke, und immer wieder werden Charaktere, die Hilfe benötigen, im Regen platziert, wo sie pitschnass werden, weil ihnen niemand einen Platz unter seinem Schirm anbietet.
Die Schattenlichter gehen nach dem Lutz-Hübner-Abend beschwingt nach Hause — froh darüber, dass diesmal nicht sie für das Aufräumen der verwüsteten Bühne zuständig sind.